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Die Kunst der Wahrnehmung

Ein Abend mit der Marina Abramović-Methode im Museum Schloss Moyland.

Donnerstagabend. Wenige Tage nach Eröffnung der Ausstellung „Marina Abramović und MAI im Dialog mit Joseph Beuys“ findet auf dem Gelände von Schloss Moyland ein ungewöhnlicher Workshop statt. Der Weg zum Eingang des Museums führt durch den großen Park, die Wege sind von üppigen Hortensien gesäumt. Schon von weitem ist eine Person zu sehen, die in ein grünes Netz gewickelt ist und auf dem Rasen liegt. Der Abend steht im Zeichen der Performance-Kunst und ist der Marina Abramović-Methode gewidmet.

Ein besonderer Ort: Schloss Moyland und sein Park

Das Museum Schloss Moyland liegt im niederrheinischen Bedburg-Hau und ist nicht nur für seine Sammlung zeitgenössischer Kunst – darunter zahlreiche Werke von Joseph Beuys – bekannt, sondern auch für seinen weitläufigen, denkmalgeschützten Schlosspark.

Der Park, ursprünglich im Stil englischer Landschaftsgärten angelegt und später mit Skulpturen, Sichtachsen und Pflanzungen weiterentwickelt, bietet eine ungewöhnliche Bühne für performative Kunstformate. In seiner ruhigen, fast abgeschlossenen Atmosphäre wird er an diesem Abend zu einem Ort, der kontemplatives Erleben ermöglicht.

Schulung der Wahrnehmung

Etwa 30 Menschen versammeln sich auf einer Wiese hinter dem Schloss. Der Workshop wird geleitet von Billy Zhao, einem der Kuratoren der aktuellen Ausstellung „Marina Abramović und MAI im Dialog mit Joseph Beuys“. Uhren und Smartphones sind drinnen geblieben, entweder in einem großen Korb, den eine Mitarbeiterin des Museums bereitgehalten hatte oder in Schließfächern an der Garderobe. Die erste Übung hat begonnen. Mal eben auf die Uhr schauen, ein Foto machen oder eine Nachricht schreiben ist in der nächsten Stunde nicht möglich.

Bevor wir zu einem kurzen Spaziergang durch den Park aufbrechen, werden wir gebeten zu schweigen. Auf einer Wiese stellen wir uns unter Bäumen in einem Kreis auf und beginnen mit einfachen Atemübungen. Später üben wir uns im Langsamgehen – so langsam wie möglich, geradeaus, nebeneinander. Wie lange wir gehen werden, erfahren wir nicht. Es fühlt sich sehr lange an. Schließlich folgt eine Partnerübung. Billy Zhao fordert uns auf, sich einer unbekannten Person so nah wie möglich gegenüber zu setzen. Wir lächeln uns kurz zu und beginnen uns still und lange in die Augen zu schauen. Diese Kurzversion von Marina Abramovićs berühmter Langzeit-Performance „The Artist is present“ fühlt sich ungewohnt an. Nach einigen Minuten beginnen meine Augen zu tränen, die Sonne scheint mir ins Gesicht. Gleichzeitig genieße ich die Stille und Konzentration, die nötig ist, um den Blickkontakt zu halten. 

Die Übungen sind eine Verbindung von Techniken der Performance-Kunst mit achtsamkeitsbasierten Praktiken, wie man sie etwa im Zen-Buddhismus oder in der MBSR-Methode (Mindfulness-Based Stress Reduction) findet.

Was macht die Marina Abramović-Methode aus?

Die Methode ist ein Übungsansatz, der auf Konzentration, Wahrnehmung und körperliche Präsenz zielt. Entwickelt wurde sie von der Künstlerin Marina Abramović als Vorbereitung für Performance-Künstler:innen  – inzwischen wird sie auch in Workshops mit Publikum eingesetzt. Die Methode kombiniert Elemente aus Achtsamkeitspraxis, Bewegung, Atmung und Stille. Ziel ist es, den eigenen Körper bewusster zu spüren, mentale Präsenz zu schärfen und sich tiefer auf künstlerische Prozesse einzulassen. Dabei geht es weniger um eine spirituelle Erfahrung im klassischen Sinn, sondern um eine Schulung der Wahrnehmung – als Voraussetzung für eine andere, intensivere Begegnung mit Kunst. Das 5-tägige „Cleaning the house“-Training findet regelmäßig in Griechenland statt.

Ausstellung und Performances: Abramović trifft Beuys

Nach etwa einer Stunde führt der Weg zurück in in die Ausstellung, immer noch schweigend. Die Übungen im Park haben meine Bewegungen verlangsamt, die Sommersonne ist tiefer gesunken. Noch immer sind Performance-Künstler:innen zu sehen. 

Dialoge an der Museums-Bar: Im Gespräch mit Billy Zhao

Die Bar wird später zum Treffpunkt. Bei kaltem und heißem Ingwer-Tee wird über das Erlebte gesprochen. Einige Teilnehmer:innen berichten von innerer Unruhe, andere von einem Gefühl der Entschleunigung. Die Übungen haben Spuren hinterlassen. Wir sprechen über die Idee, Achtsamkeit nicht als Rückzug zu verstehen, sondern als Möglichkeit, sich intensiver mit der Welt – und mit Kunst – zu verbinden. Die Marina Abramović-Methode lädt ein zur Erweiterung der Wahrnehmung und kann ein Zugang sein zu einer Kunstvermittlung, die weniger erklärt und Raum für eigene Erfahrungen anbietet.

Ein Ort für alle: Der Lange Donnerstag in Moyland

Der Workshop war Teil des Formats „Langer Donnerstag“, das jeden dritten Donnerstag im Monat zwischen 17 und 20 Uhr stattfindet. In dieser Zeit wird Schloss Moyland zur offenen Bühne für Musik, Kunst und Begegnung.

Jeder dieser Abende hat ein eigenes Programm – mal mit Performances, mal mit Gesprächen, Führungen, Lesungen oder Konzerten. Der Eintritt ist frei, sowohl für das Abendprogramm als auch für die Ausstellungen. Besucher:innen sind eingeladen, Kunst zu entdecken und das besondere Flair der Abendstunden im Museum und im Park zu genießen.

Treffpunkt und Herzstück ist immer die Bar Mezzogiorno, eine Installation im Turmkabinett, gestaltet von Florian Hüttner und Daniel Maier-Reimer. 

Angekommen im Hier und Jetzt

Der Workshop war ein Angebot, sich einzulassen: auf das eigene Empfinden, auf andere Menschen, auf einen besonderen Ort. Im besten Sinne war es eine Vermittlung ohne Worte. Ich verlasse das Gelände mit einem Dank an die Frau, der ich minutenlang in die Augen geschaut habe. Wir hatten uns wiedergetroffen bei den Schließfächern, aus denen wir unsere Smartphones holten. Wir hatten sie nicht vermisst… 

Weitere Informationen:

Museum Schloss Moyland

www.mai.art

Text und Fotos: Simone Szymanski